Von Mittelstand zu New Mittelstand. Für eine gute nachhaltige Zukunftswirtschaft.

Am 15. November 2000 erschien in der “Welt” ein Artikel mit dem Titel: „Die Renaissance der Mittelständler“. Die große Renaissance blieb zwar aus, nicht aber die Idee und das Bedürfnis Mittelstand neu und in die Zukunft zu denken. Und so stellt sich heute, mehr als 20 Jahre später und in einer Welt, die weit komplexer ist als damals, noch immer, aber mit weit mehr Dringlichkeit, die Frage nach der Renaissance. Was heute anders ist? Heute muss keiner mehr den Weg der Transformation alleine gehen - neue Netzwerke und Ökosystemdenken laden ein den Weg in die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Knapp 900 Gestalter:innen aus Mittelstand, Startups (Zebras) und Innovation haben diese Chance erkannt und finden beim New Mittelstand Summit vom 26.-28. April 2021 zusammen. Dies ist eine offene Einladung Teil der Bewegung zu werden und an einer nachhaltigen Zukunftswirtschaft mitzubauen.

Ein Beitrag von Evgeni Kouris - New Mittelstand Gründer, und Diana Scholl - New Mittelstand Botschafterin und Leiterin politische Netzwerke und Strategie, stellvertretende Leiterin Volkswirtschaft beim BVMW (Bundesverband mittelständische Wirtschaft — der größte Unternehmerverband Deutschlands) und Aileen Moeck, Zukunftsforscherin und Botschafterin New Mittelstand.

EINLEITUNG

Kleine und mittlere Unternehmen bilden den Großteil der deutschen Betriebe und gelten als das Rückgrat der Wirtschaft. Wichtige politische Handlungen orientieren sich jedoch oft nur an den Bedürfnissen und Entwicklungen der „starken Industrie“ oder „innovativen Startups“. Der Mittelstand verliert zunehmend an Kraft – vor allem Strahlkraft, obwohl er nie wichtiger war als jetzt im Jahrzehnt der großen Transformation. Aber, das muss nicht sein! Wir glauben, dass es eine neue, zukunftsfähige Form des Mittelstands in Europa gibt: den New Mittelstand. Dieser verbindet meisterhaft die Vorteile der alten mit den Vorteilen der neuen Welt.

Der Mittelstand hat die besten Voraussetzungen, für eine gute Zukunft des Wirtschaftens in Europa zu stehen — qualitatives, sinnstiftendes, purpose-orientiertes Wirtschaften. Denn viele der mittelständischen und familiengeführten Unternehmen existieren seit Generationen. Sie sind stark in der Gesellschaft verwurzelt und handeln verantwortlich. Laut BMWi erwirtschaftet der Mittelstand mehr als die Hälfte der Wertschöpfung, stellt 58% aller Arbeitsplätze und 82% der betrieblichen Ausbildungsplätze bereit. Doch es scheint, als würde der Erfolg stagnieren. Zunehmend schnellere Entscheidungsprozesse sowie Kostendruck bei Innovation, lassen zudem immer weniger Raum für Reflexion und aktive Gestaltung. Diese Entwicklung ist messbar.  

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Die Innovatorenquote ist im deutschen Mittelstand laut des letzten KfW-Monitors auf 19 Prozent gesunken. So tief wie nie zuvor. Insgesamt stiegen zwar die Ausgaben für Forschung und Entwicklung und damit Innovationen, der Anteil der Unternehmen mit Marktneuheiten, also echten, radikalen Innovationen ist jedoch weiter gesunken. So ist der Mittelstand zwar ein Nachhaltigkeits-Champion und denkt sehr langfristig – er punktet damit im Bereich Verantwortung – läuft damit aber derzeit auch Gefahr seinen einstigen Vorsprung und Mut für Neues zu verlieren. Es scheint, als hätten viele mittelständische Firmen gegenüber der Dominanz der Tech-Giganten aus dem Silicon Valley (und zunehmend aus China) an Kraft verloren.

WEIL DER MITTELSTAND INNOVATION BRAUCHT.  WEIL DIE ZUKUNFT DEN MITTELSTAND BRAUCHT.png

Wo bleibt der einst so berühmte Erfindergeist der „Hidden Champions“? Startups aus den großen Ballungsräumen wie Berlin und München erscheinen zunehmend auf der Bildfläche, laufen aber allein und unabhängig vom Mittelstand – es entstehen kaum Synergien oder eine echte, wertschätzende und langfristige Zusammenarbeit. Dies stärkt zwar einzelne Akteure, nicht aber die gesamte Wirtschaft und bildet schon gar keine Grundlage für ein sich vor uns neu auftuendes Paradigma der Kollaboration und des Ökosystemdenkens. Denn nie war ein Zusammenwirken und ein sich Öffnen wichtiger als jetzt im Jahrzehnt der großen Transformation und Strukurwandels auf allen Ebenen. Der Mittelstand hat die Kraft diese Transformation zu formen, dafür aber muss er sich öffnen, zum Teil neu erfinden.

KONTEXT

Wie aber erfindet man sich neu? Denn: Und auch das kann festgestellt werden, wurde der Mittelstand die letzten Jahre eher stiefmütterlich behandelt und oft in den Schatten gestellt. Mittelständische Betriebe sehen sich in der Folge immer mehr damit konfrontiert, dass sich vor allem junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder Schüler:innen und Student:innen eine Tätigkeit bei einem Flagschiff oder eben dem „coolen“ Startup wünschen. Der Mittelstand kämpft dabei nicht nur mit dem Fachkräftemangel und politischen Rahmenbedingungen, sondern auch immer mehr mit internationalem Wettbewerb. Politische Entscheidungen wirken zwar meist direkt und stark auf den Mittelstand ein, nur selten aber werden dessen Bedürfnisse und eine aktive Förderung in den Mittelpunkt der politischen Gestaltung gestellt. Dabei ist der Mittelstand nicht nur wirtschaftlich durch seine Größe ein zentraler Richtungsweiser für die Zukunft unseres Landes, sondern auch gesellschaftlich. So wirken in Deutschland viele Unternehmen bereits seit Jahren aktiv und erfolgreich am gesellschaftlichen Wandel und einer neuen Innovationskultur mit. Vielen jedoch fehlt es an Strahlkraft und einer klaren Mission Zukunft, um dies zu kommunizieren und so künftige Kunden oder Mitarbeitende für sich zu begeistern. Es stellt sich die Frage: Ist das klassische Modell des Mittelstands in Zeiten der Digitalisierung und Disruption immer noch beständig und zukunftsfähig? Wo müssen wir ansetzen, um die Strahlkraft zurück zu holen?

Um dies zu beantworten müssen wir uns erst mal anschauen, was den Mittelstand so besonders macht. Wofür steht dieser und wie haben mittelständische Unternehmen eine Chance in einer zunehmend schneller werdenden und globalisierten Welt?

Mit dem Mittelstand in Deutschland verbindet man vor allem Tradition und Beständigkeit. Dabei hat man schnell das Bild von Produktionshallen, Aktenschränken oder Handwerksbetrieben vor Augen. Begriffe wie progressiv oder nachhaltig fallen bei ersten Gedanken zum Mittelstand selten. Ebenso liest man beinahe nichts über große Investitionssummen. Aber wird der mittelständischen Wirtschaft damit nicht vielleicht unrecht getan? Haben die vielen kleinen und mittleren Betriebe in Deutschland vielleicht sogar Vorteile gegenüber neuen Akteuren der vor allem digitalen Startup Welt?

Ja und nein – hier ist ein Überblick der Stärken und aktuellen Herausforderungen des Mittelstands:

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Die digitale Transformation ist ganz klar die größte Herausforderung, die sich seit der industriellen Revolution stellt. Allein der Blick zurück auf die vergangenen 10 oder 20 Jahre macht deutlich, in welcher Geschwindigkeit und welcher Nachdrücklichkeit sich disruptive Technologien auf unser Leben und unsere Art des Wirtschaftens auswirken. Viele global agierende Firmen, denen es nicht gelungen ist schnell genug auf diese Veränderung zu reagieren, gibt es heute nicht mehr oder sie haben ihre frühere Marktposition verloren. Blaupunkt, Grundig, Nokia, Kodak — um nur einige Beispiele zu nennen. Doch nicht nur die Schnelligkeit ist hier die Herausforderung, sondern oft kommt das Neue vor allem aus einer ganz anderen Ecke. Umso wichtiger ist es, sich zu öffnen und branchenübergreifend zu agieren. Die COVID-19 Krise ist hier nur ein Beschleuniger oder Vergrößerungsglas vieler Herausforderungen – viele Herausforderungen, die bereits vorher bestanden. Es zeigt aber einmal mehr: Nur durch systematisches Denken, Kollaboration und Mut für ganz neue Wege lässt sich die Komplexität und Beschleunigung der modernen Wirtschaft und Welt leben und gestalten. Der Mittelstand und die europäische Wirtschaft werden insgesamt nur dann langfristig überleben und nachhaltig erfolgreich sein, wenn es gelingt die Wirtschaftskultur „von der Wurzel aus“ radikal weiterzuentwickeln. Neue, disruptive Technologien und Startups sollten keine Angst auslösen, sondern ein Teil der neuen Lösung sein. Das Ergebnis: die New Mittelstand Vision.

Quelle: New Mittelstand, angelehnt an Zebras Unite

Quelle: New Mittelstand, angelehnt an Zebras Unite

Was macht NEW MITTELSTAND aus?

Quelle: New Mittelstand

Quelle: New Mittelstand

New Mittelstand verbindet meisterhaft die Vorteile der alten mit den Vorteilen der neuen Welt. Damit dies aber gelingt, braucht es eine Verbindung von Mittelstandskultur und -tradition mit radikaler Innovation und Flexibilität von Startups. Vor allem aber braucht es Mut für die eigene Transformation und Führung, die den Spagat aus Herkunft und Zukunft und Tradition und Innovation schafft. Dabei geht es gar nicht so sehr darum Vieles neu, sondern alternativ zu machen, nicht zu verwerfen, sondern zu hinterfragen und vor allem auch mal raus aus dem „Hamsterrad der Effizienz“ zu kommen und rein in die kreative Gestaltung. Es geht darum eine führende Rolle im Sturkturwandel einzunehmen und Erwartungen an eine Welt in 2030 durch eine eigene Unternehmensmission für die nahe und ferne Zukunft zu ersetzen — diese Welt und das eigene Unternehmen „enkelfähig“ zu machen. Aktive Zukunftstransformation bedeutet dabei Eigeninitiative zu übernehmen, um eigene Trends zu setzen, statt diese nur passiv zu verfolgen.  

Die Vorausetzungen sind gut – jetzt geht es darum den Absprung nicht zu verpassen und aktiv zu werden. Denn schaut man genauer hin finden sich in vielen mittelständischen Betrieben bereits Werte, die zentral dazu beitragen unsere Gesellschaft zusammenzuhalten und Wirtschaft nach vorne zu bringen. Nachhaltigkeit, gesellschaftliches Engagement und starke Mitarbeiterkultur zum Beispiel sind schon lange Kernparameter guten Unternehmertums. „Tue Gutes und rede darüber“ - der Mittelstand trägt in sich das Potenzial als Vorbild voranzugehen, nur fehlt es an Progressivität, Selbstbewusstsein und Mut dies auch voll und ganz zu leben und zu kommunizieren.

Nähe zum Betrieb und zu den Mitarbeiter:innen, flache Hierarchien und eine familiäre Atmosphäre - genau das lässt sich teilweise in großen Industriebetrieben vermissen. Mittelständische Betriebe aber zeichnet genau das aus und sie bilden damit bereits genau die Aspekte, Wünsche und Werte ab, die unter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern immer beliebter werden. New Mittelständler:innen nutzen dies aktiv als Werkzeug und Wert. Das macht den New Mittelstand aus: Er arbeitet wertebasiert und proaktiv.

New Mittelstand verbindet ökonomische, ökologische und soziale Ziele - oft spricht man vom Dreiklang Profit, Planet, People (PPP)

New Mittelstand verbindet ökonomische, ökologische und soziale Ziele - oft spricht man vom Dreiklang Profit, Planet, People (PPP)

Er wartet nicht, sondern gestaltet. Er nutzt nicht nur, sondern exploriert. Der New Mittelstand denkt nicht in allein in Summen und Umsätzen, er denkt in Generationen und Menschen. New Mittelstand sucht sich nicht nur eine Nische, sondern besetzt ein Thema und gibt sich eine Stimme. Besonders deutlich wird dies aktuell im Bereich der Nachhaltigkeit. Ein Wert, der als Dreiklang aus ökonomischen, ökologischen und sozialen Zielen seit jeher im Mittelstand praktiziert und gelebt wird. Man könnte auch sagen, der Mittelstand ist seit jeher dafür angetreten, die Welt in seinem Umfeld ein kleines Stückchen besser zu machen. Unternehmertum angetrieben aus Motivation für Erfindergeist und Idealismus. Nicht selten identifizieren sich die Arbeitnehmer:innen und deren Familien in einer Region mit ihrem Produkt oder Dienstleistung, die echten Nutzen schaffen sollte. Im Gegensatz zu vielen Industrien und Startups ist dies nicht aus marketingtechnischer Sicht erfolgt, sondern natürlich gewachsen.

Eine persönliche Verbindung zum Produkt, zu den Mitarbeiter:innen und zum gesamten Betrieb. Warum sind sie dann trotzdem vergleichsweise unattraktiv für die nächsten Generationen und was können wir tun, um das zu ändern? Die öffentliche Wahrnehmung und Präsenz im überregionalen, gar nationalen Sinne existiert selten. Denn darum geht es dem mittelständischen Betrieb meistens nicht. Vielleicht ein Vorwurf, den sich die kleinen und mittleren Betriebe gefallen lassen müssen. Ein weiterer ist, dass mittelständische Betriebe sich gern auch mal kritisch dem Zeitgeist gegenüber zeigen und sich an den bleibenden Werten orientieren. Aber, ist das wirklich falsch?

Nein, denn oft ist es im Mittelstand üblich, dass ein Unternehmensname auch einen persönlichen Bezug zur Unternehmerfamilie hat. Es ist nicht allein ein Produkt oder eine Dienstleistung die präsentiert bzw. repräsentiert wird – es sind Menschen, Personen, eine Familie. Dementsprechend bringt jede Veränderung, jedes Vorangehen auch das Hinhalten des eigenen Namens und des Gesichtes mit sich – auch beim Scheitern. Der New Mittelstand hat das erkannt, tauscht scheitern hier aber gegen lernen. Sie wissen, dass mittelständische Betriebe keine Rennboote sind, aber eben auch keine schweren Schlagschiffe. Sie sind die beste Mischung aus beidem. Stark genug um Stürme zu überstehen, aber auch wendig und agil genug, um sich auf neue Begebenheiten anzupassen. Ein Überblick, wie sich die Logik wandelt:

Quelle: New Mittelstand, angelehnt an Bertelsmann Stiftung | Zukunft KMU Wandel

Quelle: New Mittelstand, angelehnt an Bertelsmann Stiftung | Zukunft KMU Wandel

Der New Mittelstand gilt vielleicht allgemein (noch!) hin nicht als Trendsetter oder Vorreiter beispielsweise bei der Digitalisierung, aber er hat die besten Möglichkeiten und Voraussetzungen eigene Themen auf die Agenda zu setzen und gestalterisch voranzugehen. Nicht allein der Blick auf das Geleistete zählt, sondern auch neue Visionen und motivierende Vorhaben. New Mittelstand setzt deshalb nicht nur auf Expertentum, das das Jetzt gut kennt und Erfahrungswerte, sondern gibt auch Raum für Visionäre und die Brückenbauer dazwischen, die als Intrapreneure die Transformation von innen heraus vorantreiben. Genau hier braucht es Öffnung und manchmal den Blick von außen, weshalb der Austausch zwischen Unternehmer:innen und Unternehmen auch branchenübergreifend so essentiell ist und wichtiger wird. Wenn diese bereit sind, den Blick nach außen zu wagen, ohne die Sicht auf die bestehenden Werte und Handlungsweisen des Betriebs zu verlieren, haben sie die besten Voraussetzungen.

Am Puls der Zeit bleibt nur, wer sein eigenes Geschäftsmodell beständig hinterfragt. Dazu ist es wichtig, stets Vertrauen in sich und die Mitarbeiter:innen zu haben, von anderen zu lernen, immer neue Impulse zu sammeln und sich zu vernetzen. Aus unserer Perspektive sind daher aktive Netzwerke und die Arbeit damit unerlässlich. Der Austausch mit anderen Unternehmen, Führungspersönlichkeiten, auch aus eigentlich fernen Branchen, kann offensiv dazu beitragen, das eigene Unternehmen zukunftsfähig zu halten. Kern von New Mittelstand ist es deshalb, vor allem vernetzt und aktiv zusammen zu arbeiten. Es geht nicht um Protektionismus und die alleinige Beständigkeit des eigenen Betriebes, sondern um ein gesamtwirtschaftliches Bild und die Erkenntnis, dass man von einer starken Gesamtwirtschaft profitiert und diese zu nutzen weiß. Initiativen wie „New Mittelstand“ oder Verbände wie der BVMW setzen genau hier an und unterstützen im Aufbau wertvoller Beziehungen. Wir wollen gemeinsam den Austausch und die Vernetzung fördern und gezielt stärken, denn wir wollen, dass die mittelständische Wirtschaft in Deutschland wieder stärker wird, dass sie gehört wird und dass sie das bleiben kann, was sie ist. Der Wirtschaftsmotor unserer Gesellschaft.

Es zeigt sich, dass der Mittelstand bereits viele zentrale Eigenschaften und Attribute für eine erfolgreiche Zukunft in sich trägt, es gilt diese entsprechend für die Zukunft weiter zu entwickeln. New Mittelstand versteht sich damit nicht als etwas abstraktes oder eine neue Form, sondern bildet vielmehr eine Haltung und ein Wirken, angefangen bei den Führungskräften eines Unternehmens.

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